Ich bin zwar keine begeisterte Artlerin, aber ich dachte mir, ich zeig euch mal, was ich bisher so geschrieben habe
Das Folgende sollte eigentlich ein Probepost in einem RPG werden, also als Teil eines Steckbriefs. Es handelte sich dabei um ein RL-RPG, ich hab mich nie angemeldet, weil das Interesse dann doch irgendwie weg war, aber ich denke, der Text spricht auch für sich.
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Heilig Abend. Wie lächerlich war das? Wie klischeehaft hatten sie sich verhalten? Sharon fühlte sich, als wäre sie soeben einem schlechten Film entsprungen. Sie blickte auf die andere Seite des Bettes. Er hatte sie nicht einmal im Arm gehalten, als sie aufgewacht war. Doch es war passiert, sie hatten miteinander geschlafen. Wie lange Billy wohl gestern Abend gewartet hatte, dass sie endlich auftauchen würde? Er hatte sich alles so wundervoll ausgemalt. Sie waren extra nach New York gekommen, um das Weihnachtsfest mit ihrem Vater zu verbringen. Eigentlich hatte sie nur kurz in der Wohnung vorbeisehen, alles erledigen wollen und war auf den Stufen der Kathedrale zum Stehen gekommen. Der Himmel über ihr war dunkel gewesen, es musste bereits auf acht zugegangen sein, als sie dort auf den Stufen stand und den Blick emporreckte. Wie hätte sie auch nur ahnen können, dass er kommen würde? Er war so plötzlich da gewesen, hatte wortlos ihre Hand genommen und sie angelächelt. Ihr Chris! Es war gewesen, als hätte es die letzten 13 Jahre nicht gegeben, als hätte er sie niemals dort im Schnee vor der Kathedrale verlassen, als hätte sie sich nie mit seinem jüngeren Bruder getröstet. Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, als er sie geküsst hatte. Ein Weihnachtswunder war geschehen! Sie waren gemeinsam in Sharons Zweitwohnung gegangen, über alte Zeiten scherzend hatten sie den Aufzug in dem Gebäude direkt neben der Kirche bestiegen. Nein, sie waren nicht darin übereinander hergefallen, das wäre wohl auch zu klischeehaft gewesen. Doch es war Heiligabend und sie waren zusammen. Ein schöneres Weihnachtsfest hätte er ihr nicht bescheren können!
Plötzlich hörte sie eine Türe schließen und setzte sich ruckartig auf. So klang keine Badezimmertüre! Sofort sprang sie auf, schlug die Decke zurück und lief völlig nackt vor der Fensterfront im Wohnzimmer zur Eingangstüre. Er war weg! Sie stürzte wieder ins Schlafzimmer, schlüpfte in ihr Kleid und verließ die Wohnung ohne abzuschließen. Nichts nahm sie mit, kein Telefon, keinen Schlüssel. Sie trug nicht einmal einen Mantel, als sie auf die verschneiten Straßen trat. Da wurde es ihr plötzlich klar. Es schneite, kleine Flöckchen fielen vom Himmelszelt, das von hellen, grauen Wolken über und über bedeckt war. Es schien, als hätte sich der sonst so blaue Himmel plötzlich verfärbt. Die Farbe wirkte nicht trostlos, nicht trist, doch Sharon wäre jede Gewitterwolke lieber gewesen. Als sie seinen Haarschopf in der Menge ausmachte, stürzte sie los. Ihre Schuhe, die sie in der Eile nicht einmal zugemacht hatte, erschwerten ihr die Schritte auf den rutschigen Straßen, doch sie kämpfte sich voran.
Das Herz rutschte ihr in die Hose, als sie sah, wie er die Stufen zur Kathedrale hochstieg und vor dem Eingangsportal stehen blieb. Sie erstarrte am Fuße der Treppe. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würde, er hatte all das geplant! Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, er sah nachdenklich aus, das wusste sie, ohne sein Gesicht gesehen zu haben. Irgendetwas schien ihn dazu zu bringen, nicht in ihre Richtung zu sehen, obwohl er sie zweifellos erwartete. Wenn sie jetzt dort hochging, würde er ein zweites Mal mit ihr Schluss machen. Der Ort des Spektakels war bewusst gewählt, er wollte die Szene von damals wiederholen. Mit zitternden Beinen stieg sie die Stufen hoch, eine nach der anderen. Die losen Schuhe erzeugten kaum ein Geräusch auf dem von einer dünnen Schneeschicht bedeckten Beton. Er musste wissen, dass sie es war, doch er drehte sich erst um, als sie direkt hinter ihm stand. Eigentlich hätte Sharon erwartet, etwas anderes zu sehen. Einen jungen, gutaussehenden Teenager, neunzehn Jahre, Harvard-Student. Stattdessen stand dort ein völlig Fremder, ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das konnte nicht ihr Chris sein. Dieser Mann war 32, hatte kurz geschnittene blonde Haare und tiefe Ringe unter den Augen. Doch in dem Moment, als er sie sah, schien etwas in seinem Gesicht aufzukeimen wie eine Blume, womöglich eine Erinnerung, doch dieser Moment brachte die Erinnerung an jenen Moment vor dreizehn Jahren zurück. Dann wurde seine Miene wieder die eines Fremden.
„Du siehst aus wie damals, Sharon“, flüsterte er, sie konnte seine Stimme kaum vernehmen unter dem Wind und dem Lärm der anderen Menschen vor der Kirche, selbst wenn es nicht so viele waren wie sonst oft. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte nichts davon hören, sie wollte nicht hören, dass dieser Mann sich an etwas erinnerte, das er niemals erlebt hatte! Das war nicht ihr Chris, nicht dieser Fremde! „Ich wollte dir nicht wehtun.“
Sie hielt inne, hob den Blick ihrer tränenden Augen. Sie sah auf seine verschränkten Arme, dann auf sein Gesicht. Es war vorbei. Nein, es hatte nie richtig angefangen. Wie sehr musste sie doch jenem siebzehnjährigen Mädchen ähneln, das gehofft hatte, ihr Freund würde ihr eine romantische Überraschung machen. Wie hatte sie damals nur all die Zeichen ignorieren können? Wie heute? Hatte sie sich nicht geschworen, nie wieder einen solchen Fehler zu begehen? Die von der Kälte geröteten Wangen, die tränenden Augen, das zerzauste Haar, die bläulich verfärbten Lippen. Sie zitterte am ganzen Körper, doch sie spürte die Kälte nicht. Es war Angst, die sie zum Beben brachte.
„Ich liebe Christine und ich werde sie nicht verlassen“, erklärte er mit nüchterner Stimme. Aber warum sah er ihr dabei nicht in die Augen? Er musste ihr in die Augen sehen! Er musste ihr in die Augen sehen, damit sie erkennen konnte, dass er es nicht so meinte! Er konnte es doch nicht so meinen! „Leb wohl, Sharon.“
Nein, halt, warte! Sie wollte etwas rufen, sich die Seele aus dem Leib schreien! Sie wollte die Stimme, mit der sie ihn in all den Nächten beim Karaokesingen verflucht hatte, ein einziges Mal gegen ihn persönlich erheben, ihn anflehen, bei ihr zu bleiben. Sie konnte sich nicht rühren. Als wieder Leben in ihre starren Glieder kam, war er längst verschwunden, eine besorgte Frau hatte sie angesprochen, sie hatte sich besorgt gezeigt. Und die Frau gab ihr Geld. Vermutlich glaubte sie, Sharon wäre irgendeine Obdachlose. Ja, so musste sie aussehen. Ihr schwarzes Cocktailkleid, die schwarzen Perlohrringe. Perlen bedeuten Tränen, wusstest du das denn nicht, Sharon? Sie weinte. Sie weinte bitterlich.
Wie sie letztendlich zur Wohnung ihres Vaters gekommen war, konnte sie nicht sagen. Sie hatte schweigend die Türe geöffnet und war eingetreten. Die Heizung des Taxis hatte ihre Glieder so weit erwärmt, dass sie jetzt schmerzhaft brannten. Als sie im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel warf, erkannte sie, dass sie heruntergekommen aussehen musste. Sie bemühte sich, ihr zerzaustes Haar zu glätten, als ihr Amber und Shrimpy entgegen kamen. Die Beaglehündin und der Spanische Wasserhund sprangen freudig an ihr hoch, eine Kralle kratzte über ihre Wade. Sie spürte es nicht. Nichts spürte sie. Als sie in das Wohnzimmer trat, stand dort der festlich geschmückte Weihnachtsbaum, darunter lagen unzählige Geschenke. Keines war geöffnet worden.
„Da bist du ja endlich“, hörte sie die vertraute Stimme ihres Mannes sagen. Sie drehte sich um. Es hörte sich so falsch an, es fühlte sich so falsch an! Wieso konnte sie nicht einfach den Mann lieben, der ihr zu Füßen lag? Ab sofort würde sie es tun! Es war aussichtslos, sie konnte Chris nicht haben, also wollte sie Billy eine gute Ehefrau sein. Überrascht blickte sie an ihm hinunter. Er trug eine Tasche in der Hand.
„Ich…“, begann sie, einen fragenden Blick auf dem eiskalten Gesicht.
„Lass es!“, murmelte Billy und sah zu Boden. Was ging hier vor? „Ich wusste immer, dass ich ihn dir nicht ersetzen konnte. Du wolltest immer mehr und ich habe dir alles gegeben, doch es war dir nicht genug.“
„Aber…“, wollte sie widersprechen. Er hob die Hand, sie verstummte augenblicklich.
„Irgendwann muss ich auch an mich denken, Shy. Ich liebe dich. Aber es ging zu weit.“
Dann drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer. Amber und Shrimpy folgten ihm. Zum zweiten Mal an jenem Morgen blieb Sharon alleine zurück. Und sie wusste, dass er alles wusste. Dass er immer alles gewusst hatte. Es war vorbei.