Kleine Drachen fliegen nicht
„Luna!“
Der laute Ruf Selenes hallte durch das obere Stockwerk des kleinen Hauses, in dem die Familie Correl nun schon seit einigen Jahren lebte. Doch die Einzige, die sich darum nicht kümmerte war Luna selbst. Das kleine Mädchen stand auf dem Fensterbrett und klammerte sich am Rahmen fest, während die langen Vorhänge, von dem Sturm aus dem Fenster gerissen, fast schon gespenstisch anmutend um den Fensterrahmen wehten und ihr kurzes Nachthemd im Wind flatterte.
„Komm da sofort runter!“
Nola, die an der halb angelehnten Tür stand, beobachtete, wie sich das Gesicht ihrer älteren Schwester verhärtete, als sie durch das Zimmer zum Fenster schritt und Luna am Arm packte. „Hörst du nicht? Du sollst runter kommen, ansonsten stürzt du noch und tust dir was.“ Sie Sorge, die in ihrer Stimme mitschwang war kaum zu erkennen.
„Aber das ist es doch, was ich will!“, rief Luna.
Selene stutzte, sichtlich verdutzt.
„Lass den Unsinn“, sagte sie dann und versuchte die Kleine zu sich zu ziehen, doch Luna klammerte sich zu fest. „Los, komm!“
„Lass sie“, sagte Nola plötzlich, ohne sich wirklich darüber im Klaren zu sein warum eigentlich. Doch trotzdem, wie auf Kommando, als wäre es ein Befehl, ließ Selene Lunas Arm los und wandte sich zu Nola.
„Soll sie etwa springen?“
Nola schüttelte den Kopf und lächelte. „Lass uns nur allein,“ sagte sie und fügte leise, sodass nur Selene sie hören konnte, ein „Ich krieg sie da schon runter“ hinzu.
Zugegeben, Selene sah nicht allzu überzeugt aus, doch sie entfernte sich ein paar Schritte von Luna, langsam und man konnte sehen dass sie es nicht gerne tat, aber sie tat es.
„Ich sage es nicht gerne“, sagte sie, „aber ich vertraue dir. Und wehe dir ich komme wieder und sie hat nur einen Kratzer.“
Damit ging sie an ihrer kleinen Schwester vorbei und verschwand durch die Tür. Nola ging langsam auf das Fenster zu.
„Luna?“, fragte sie.
Lunas Kopf drehte sich nach hinten. In ihren Augen standen Tränen, wohl wegen Selenes Unverständnis, aber gleichzeitig lag darin ein Glänzen, ein freudiges Strahlen, dass Nola fast Angst machte.
„Was willst du?“, fragte Luna.
„Nichts.“ Nola setzte sich neben ihre Schwester auf die Fensterbank und sah, wie beiläufig, nach unten. „Das ist ziemlich hoch, findest du nicht?“
Luna nickte. „Ja, das ist es.“
Eine Weile blieben die Schwestern stumm. Es war wie bei einem dieser seltenen Besuche bei ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters, einer Frau, die sie kaum kannten. Man saß da und wusste nicht was man reden sollte, weshalb man über irgendein unnützes, belangloses Zeug sprach, da man auch nicht die ganze Zeit still sein wollte.
„Und trotzdem stehst du hier?“
„Das muss so hoch sein.“
„Wirklich?“
„Ja, natürlich.“
Nola zog die Beine an und lehnte sich gegen den Rahmen. Luna schien von ihrem Vorhaben, was auch immer es sein mochte, immer überzeugter zu sein. Ihr Blick wanderte durch den Sturm, der über Oxford wütete, folgte den Blättern, die von den Bäumen gerissen wurden bis weit in die Ferne. Langsam musste Nola sich etwas einfallen lassen, denn auch wenn sie eben vor Selene getan hatte als wäre das alles kein Problem, so hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie Luna vom Fenster weg bekommen konnte.
„Und warum muss das das so hoch sein?“
Lunas Kopf wandte sich zu Nola.
„Versprichst du mir nicht zu lachen?“
„Klar.“
„Weil ich fliegen will.“
Lunas Worte hätten unerwarteter nicht kommen können und Nola glaubte erst sich verhört zu haben.
„Fliegen?“
Wieder nickte Luna, diesmal begeisterter. „Ja, ja!“, rief sie und sah wieder nach draußen.
„Wieso willst du denn fliegen?“, wollte Nola wissen.
Luna zuckte die Achseln. „Weil ich wissen will ob ich es auch kann.“
„Keiner von uns kann fliegen“, warf Nola ein. Vielleicht schaffte sie es ja Luna von diesen selbstmörderischen Plänen abzubringen, wenn sie sie einfach mit den Tatsachen konfrontierte, doch die Kleine schüttelte nur heftig den Kopf.
„Ich kann es“, beharrte sie. „Ich kann es ganz bestimmt.“
„Und warum?“
„Weil ich doch ein Drache bin.“
Um ein Haar hätte Nola laut gelacht, doch dann wäre Luna nur sauer gewesen, weil sie wieder einmal niemand ernst nahm. Von daher beschloss Nola einfach mal ihr Glück zu versuchen.
„Du bist ein Drache?“, fragte sie. Nicken. „Und deshalb kannst du fliegen?“
Das Nicken wurde heftiger, bestimmter.
„Ja genau! Alle Drachen können fliegen.“
Jetzt hieß es handeln, denn lange würde sich Luna nicht mehr aufhalten lassen. Deshalb schüttelte Nola den Kopf.
Luna schien erstaunt. „Nicht?“
Erneut schüttelte Nola den Kopf. „Nein, nicht alle. Kleine Drachen fliegen nicht.“
„Warum nicht?“
Improvisation. Das war das Zauberwort.
„Erinnerst du dich noch an das Vogelnest, das wir gefunden haben?“, fragte sie. „Die kleinen Vögel konnten auch nicht fliegen. Ihre Flügel waren noch viel zu klein.“
„Und genauso ist es bei Drachen?“
„Ja, genau“, bestätigte Nola. „Sieh mal, du bist doch noch ein ganz, ganz kleiner Drache. Kein kleiner Drache kann fliegen. Weißt du, wenn Drachen geboren werden, dann müssen sie erst lange warten, bis ihre Flügel stark genug sind. Erst dann können sie fliegen.“
„Also dauert es noch bis ich fliegen kann?“
„Ein paar Jahre bestimmt noch.“
Lunas Hand hatte sich vom Rahmen gelöst und langsam setzte sie sich zu Nola. Wieder schwiegen sie eine ganze Weile, dann war es Luna, die das Wort ergriff.
„Nola, du bist auch ein Drache.“
„Das weiß ich doch.“
„Ein kleiner Drache.“
„Ja.“
„Du kannst auch noch nicht fliegen.“
„Nein, kann ich nicht.“
Stille. Nur der Sturm heulte noch vor dem Fenster.
„Du, Nola?“
„Ja?“
„Wenn ich groß genug bin, fliegst du dann mit mir?“
Nola zog Luna in ihre Arme und drückte sie fest an sich.
„Ja“, sagte sie. „Dann fliege ich mit dir.“