Grace Winchcombe

01. September 1977, King's Cross

Einstiegspost

Grace Winchcombe betrat hoch erhobenen Hauptes Gleis 9 3/4 und stolzierte anmutig am Bahnsteig entlang. Sie trug die neue Silberkette, die ihr Vater ihr zum Abschied geschenkt hatte - als Entschuldigung dafür, dass er sie wie jedes Jahr nicht zum Zug begleitete. Ein glitzernder Diamant prangte in der Mitte des feinen Anhängers und leuchtete trotz des bewölkten Himmels. Wie immer wandten sich die Menschen nach ihr um, sie spürte förmlich, wie sie die Blicke auf sich zog, und lächelte voller Genugtuung.
Eigentlich hatte Grace vorgehabt, sich direkt ein Abteil im Zug zu sichern, doch sie entschied sich um und hielt stattdessen Ausschau nach ihren Freundinnen. Sollte kein Abteil mehr frei sein, würde sie einfach einen nichtsnutzigen Erstklässler rausschmeißen. Wieder einmal war das Gleis überbevölkert mit Kindern - kleine, quengelnde Blagen, die keinen Respekt mehr vor den älteren Schülern hatten. Nicht, dass sie generell etwas gegen Kinder hätte. Nein, nur gegen die, die sich in Hogwarts aufführten wie Könige. Leider gab es von dieser Sorte mehr als genug.
Grace erkannte allerlei Gesichter wieder, jedoch kaum welche, die sie mochte. Wo blieben nur ihre Freundinnen? Es wurde langsam Zeit. Ungeduldig blieb sie stehen und blickte sich mit ihren katzenhaften Augen um. Ein Junge, der ihren Blick auffing, erstarrte zu Eis, in seinen Augen Faszination, Ehrfurcht, Bewunderung. Grace lächelte. Oh ja, sie hatte Hogwarts wirklich vermisst.

01. September 1977, King's Cross, Zusammentreffen mit Chris Diamond

Plötzlich ertönte hinter Grace eine altbekannte Stimme. "HEY GRACE'ILEIN", grölte Chris Diamond, ein Gryffindor aus ihrer Stufe, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Genervt verdrehte Grace die Augen und erwog, einfach weiterzugehen. Ihre bissige Art jedoch ließ sie einen überheblichen Gesichtsausdruck aufsetzen und sich langsam zu dem brüllenden Halbwüchsigen herumdrehen. Kühl musterte sie seine viel zu langen Haare und die seltsame Kleidung, die er trug. Ganz offensichtlich hatte er sich nicht im geringsten verändert. Bemitleidenswert.
Chris und sein Freund Maurice machten allerhand Faxen, die Grace mit einem höhnischen Lächeln kommentierte. Sie wusste genau, dass auch die beiden eine tiefe Abneigung gegen sie hegten, was Grace jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass sich die zwei Jugendlichen sehr absonderlich kleideten und sowieso keinen Anstand besaßen, nicht wunderte. Schon lange ärgerte sie sich nicht mehr über solche Kindereien, da mussten sie schon zu härteren Mitteln greifen. Diese zwei Kinder jedenfalls beeindruckten sie in keiner Weise, im Grunde amüsierten sie Grace sogar. Und so warf sie ihnen einen letzten, blasphemischen Blick zu, um sich gleich darauf wieder dem Umherstolzieren auf dem Bahnsteig zu widmen und darauf zu warten, dass jemand auftauchte, mit dem man eine normale Konversation führen konnte.

1. September 1977, King's Cross, Gleis 9 3/4, Zusammentreffen mit Ruby Winchester

Die nächste Stimme, die Grace vernahm, war ihr weitaus angenehmer als jene zuvor - Ruby Winchester, ein Ravenclaw-Mädchen, mit dem sie sich den Schlafsaal teilte, kam lächelnd auf sie zu und umarmte sie zur Begrüßung. Grace erwiderte die Umarmung und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Hey, Grace. Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen. Setzen wir uns zusammen in ein Abteil?“, sagte Ruby, und direkt fühlte Grace sich wohler. Die beiden waren zwar nicht die besten Freundinnen, da sie in den letzten Jahren außerhalb ihres Schlafsaales nur ab und zu etwas miteinander zu tun gehabt hatten, doch Grace hatte Ruby nichtsdestotrotz sehr gern. Eigentlich war es schade, dass sie nicht auch im Alltag öfter miteinander redeten, und direkt formte sich in ihrem Kopf der Gedanke, Ruby vorzuschlagen, demnächst zusammen nach Hogsmeade zu gehen. Sie hatte die Gesellschaft Gleichaltriger wirklich nötig nach der langen Hogwarts-Abstinenz.
"Hallo, Ruby. Natürlich setzen wir uns in ein Abteil - wir sollten uns besser beeilen, sonst ist der Zug überfüllt mit diesen Würmchen." Sie rückte ihre Handtasche zurecht, wandte sich zu einem Mann des Bahnpersonals um, der seinen Blick sofort gebannt auf sie richtete, und sagte in einem befehlsgewohnten Ton: "Seien Sie so nett und bringen Sie mein Gepäck in den Zug." Mit einer gelangweilten Handbewegung wies sie auf ihre zahlreichen Koffer. Natürlich nur das Nötigste.
Mit einem auffordernden Lächeln blickte Grace Ruby an. "Gehen wir?"

tbc: Abteil 2

1. September 1977, Hogwarts-Express, Abteil 2 (Delilah Morisson, Ruby Winchester, Grace Winchcombe)

cf: Gleis 9 3/4

Grace schritt hinter Ruby einher, warf abschätzende Blicke in die Abteile und reckte hochmütig den Hals. Erstklässler. Überall Erstklässler. Und Zweitklässler. Genauso schlimm. Sie verachtete alle, die jünger waren als sie selbst - nicht, dass sie deswegen Respekt vor älteren Schülern hätte.
Inbrünstig hoffend, endlich ein freies Abteil zu finden, seufzte Grace. Ihr Wunsch sollte sich erfüllen, denn im nächsten Moment blieb Ruby stehen, schob eine Abteiltür auf und sagte: „Hey, können wir vielleicht mit rein kommen?“ Als Grace mit unbewegtem Gesicht ins Abteil lugte, sah sie Leilah, und ein breites Lächeln erhellte ihre Züge - na endlich!
„Klar, hier sind noch zwei Plätzchen frei”, hörte sie Leilah antworten. Ruby entschwand ins Abteil, und schnell schritt Grace zu ihrer Freundin, um diese mit einer Umarmung und einem Wangenkuss zu begrüßen. „Oh, Leilah, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben!”
„Darf ich vielleicht am Fenster sitzen?“, fragte Ruby, obwohl sie sich schon halb niedergelassen hatte. Grace ließ sich neben Ruby sinken und musterte ihre Freundin und das Federvieh, das neben ihr auf dem Sitz hockte. [/i]Immer diese Vögel![/i] Sie selbst besaß weder eine Eule noch ein sonstiges geflügeltes Tier und konnte gut darauf verzichten, morgens beim Frühstück Federn aus ihrer Milch fischen zu müssen. Plötzlich klopfte es am Fenster, und Grace musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht zu seufzen, als ein weiteres Vogelvieh ins Abteil schwebte.
„Keine Angst. Neelix ist ganz lieb”, versicherte Ruby. Liebe Vögel. Auch das noch. Ruby schüttelte scheinbar in Gedanken versunken den Kopf, dann wandte sie sich zu Grace um und fragte: „Wie waren deine Ferien so?“
Grace lächelte und zupfte ihen neuen Rock zurecht. „Oh, sie waren ganz wunderbar. Wir besuchten meine Verwandten in Polen und verbrachten schließlich noch eine Woche in unserem Ferienhaus an der Côte d‘Azur in Frankreich. Die Fischsuppe war köstlich.” Dann schaute sie in Rubys graue Augen und lächelte. „Und wie waren deine Ferien?”

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